Achtung Europa!

interscience film im Auftrag des ZDF
4. September 2016, 00.05 Uhr, ZDF

Richard David Precht im Gespräch mit Martin Schulz.

Was ist los mit Europa? Warum misstrauen immer mehr Bürger den Politikern? EU-Parlamentspräsident Martin Schulz spricht über fehlende Visionen und mangelnde Solidarität. Die große Idee eines vereinten Europas ist verblasst. Wer hat Schuld daran? Ein neues Narrativ müsste entstehen, das die Menschen wieder erreicht. Damit aus Usern und Konsumenten verantwortungsbewusste Staatsbürger werden. Darüber spricht Richard David Precht in der ZDF-Philosophiesendung mit Martin Schulz, dem Präsidenten des EU-Parlaments.

Früher hätten die Menschen und Völker Europas noch verstanden, dass das Zusammenwachsen ihres Kontinents die richtige Konsequenz aus zwei verheerenden Weltkriegen sei, so EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Das Narrativ handelte vom Lernen der Völker und dem Sieg des Friedens über rücksichtslose Konkurrenz und blutige Barbarei. Doch heute stottere der erzählerische Motor Europas nur noch so vor sich hin. Ein neues Narrativ müsse her, um den europäischen Einigungsprozess fortzusetzen und den Sinn des Ganzen wieder offensichtlich zu machen. Aber welches? Und ist es überhaupt noch zu finden? Dieser Frage möchte Richard David Precht mit Martin Schulz nachgehen.

Die Deutschen beurteilen, laut einer Umfrage, ihre private Lage überwiegend als gut, doch die Entwicklung unseres Landes und Europas betrachten wir mit größter Sorge. Eine Diskrepanz scheint sich aufzutun zwischen Privatem und Gesellschaftlichem. Woran liegt das? Hat der entgrenzte Kapitalismus das Private nicht politisch gemacht, so Richard David Precht, sondern das Politische privat? Politik scheint heute nur akzeptiert zu werden, wenn sie dem Einzelnen zum Vorteil gereicht. Politiker, die heute noch nach einem großen Narrativ suchen, für eine gesellschaftliche Vision kämpfen, werden vom Bürger sofort als realitätsfremd diffamiert. Die alleinige politische Maßeinheit scheint heute der Realismus und die Lösungseffizienz zu sein.

Aber kann das gut gehen? Kann man die gesellschaftliche Verantwortung in die Politik outsourcen, sie zur Wach- und Schließgesellschaft degradieren, die unsere ungezügelten Ängste ernst nehmen muss, egal wie fiktional diese auch sein mögen? Statt Staatsbürger zu sein sind wir User, sagt Precht. Auch auf Staatsebene nimmt die User-Mentalität zu. Man bedient sich gerne aus den EU-Töpfen, drückt sich aber um Solidarität zum Beispiel in der Flüchtlingsfrage.

Fast sämtliche politische Erregung und Wut sind heute kein Richtungs- oder Grundsatzstreit mehr, sondern das Ergebnis enttäuschter Problemlösungserwartungen. Ist diese Aufregungskultur mit ihrem Unmut, dem Pessimismus und Egoismus unserer Tage damit eben keine Krankheit, die uns quasi von außen befallen hat, sondern hausgemacht? Sind die Wutbürger und Ich-AGs nicht jene „verzogenen Kinder“, die eben dieses Europa selbst herangezogen hat? Und wenn das stimmt, wie soll man darauf reagieren? Ist die Geschichte Europas möglicherweise zu Ende erzählt?