Richard David Precht trifft den Risikoforscher Ortwin Renn. Sie sprechen über die neuen Lebensrisiken unserer Zeit und darüber, wie man sie richtig abschätzen kann. Dabei habe die Politik laut Renn weder in der Coronakrise noch im Ukrainekrieg die resultierenden Risiken vollständig beschrieben und richtig eingeschätzt. Das Problem: Einzelne Krisen beeinflussen sich über komplexe Beziehungsstrukturen gegenseitig.
Blick auf finale Bedrohungen
Bei all diesen Problemlagen geht es um existenzielle, ökonomische und soziale Fragen. Und stets stehen Menschen vor der Aufgabe abzuwägen, welches Risiko sie eingehen wollen und welches sie unbedingt vermeiden wollen. Inzwischen erscheinen sogar das Zünden von Atombomben und ein Dritter Weltkrieg wieder als denkbar. Nach Jahrzehnten, in denen man den Eindruck gewinnen konnte, das Szenario eines Atomkrieges sei nur noch Thema in Geschichtsbüchern, wird nun fast täglich darüber spekuliert, ob der russische Angriffskrieg in einer nuklearen Eskalation münden könnte.
Auch viele andere vermeintliche Gewissheiten haben sich mittlerweile als trügerisch erwiesen. Inflation und Energiekrise, Corona- und Klimakrise machen das deutlich. Innerhalb kürzester Zeit zeigt die Welt einen bedrohlichen Grad an Störanfälligkeit. Waren wir eben noch auf dem Weg in die Null-Risiko-Gesellschaft, so blicken wir auf einmal in den Abgrund finaler Bedrohungen. Der Risikoforscher Ortwin Renn spricht von Polykrisen.
Immer mehr globale Gefahren
Können diese Risiken in all ihren Facetten überhaupt noch richtig erkannt und eingeschätzt werden? Wie sind dabei die Interessen der Politik, der Fachleute und der normalen Bürgerinnen und Bürger in Einklang zu bringen? Wann ist energisches Durchgreifen erforderlich? Wann ein besonnenes Abwägen und Abwarten? Sind wir Menschen in der Lage, Risiken richtig einzuschätzen? Wie kann die Gesellschaft, wie können wir alle darin besser werden?
Renn unterscheidet unsere individuellen Gefährdungen von kollektiven Risiken. Während wir privat eine hohe Erwartung an unsere Sicherheit stellen, weil wir viele Gefahren in unserem Alltag deutlich minimieren konnten, müssen wir uns andererseits immer mehr vor den globalen Gefahren wie etwa Klimaerwärmung und Krieg fürchten.
Viele folgenschwere Risiko-Entscheidungen könnten in nächster Zeit davon abhängen, inwieweit der Mensch ein gesundes Urteilsvermögen entwickeln und bewahren kann.
Ortwin Renn ist Sozialpsychologe und leitet als wissenschaftlicher Direktor das Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam. 2014 erschien sein Buch „Das Risikoparadox: Warum wir uns vor dem Falschen fürchten“, in dem er aufzeigt, dass wir bei der Risikoeinschätzung oft irrational vorgehen.
Renn lehrte an verschiedenen Hochschulen in den USA, der Schweiz und Deutschland und hält den Lehrstuhl für Technik- und Umweltsoziologie an der Universität Stuttgart.
Er gehörte der von Angela Merkel einberufenen Kommission „Zukunft der Energieversorgung“ an und ist seit 2018 Mitglied der nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen erhielt er 2013 das Verdienstkreuz Erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland.