Zwischen den Fronten – Die Rache Gottes

8. Januar 2008, 20.15 Uhr, ZDF

Eine Dokumentation von Peter Scholl-Latour und Gero von Boehm

Zu Unrecht wird die geschichtliche Wende unserer Tage auf den 11. September 2001 datiert. In einem ausführlichen Fernsehgespräch, das mit Filmaufnahmen aus den vergangen Jahrzehnten bebildert wird, führt Gero von Boehm ein Gespräch mit Peter Scholl-Latour über dessen sechzigjähriges Berufsleben und sein Erleben der politischen Veränderungen, die sich in dieser Zeit ereignet haben.

Zunächst geht es um den Niedergang der europäischen Kolonialreiche, der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte. Aber jenseits von dem „decline and fall“ des Britischen Weltreichs, der Kolonialbesetzung Frankreichs, Portugals und Belgiens, wozu sich dann der plötzliche und dramatische Zusammenbruch der Sowjetunion gesellte, befasst sich der erste Teil der Dokumentation vor allem mit der Frage, ob der heutigen Supermacht USA ein ähnliches Schicksal droht. Das Thema wird übrigens in Amerika sehr viel eindringlicher diskutiert als in Europa.
Diese Betrachtung führt – nach dem strahlenden Sieg über Deutschland und Japan – zu jenem allmählichen Machtverfall der USA, der sich in Korea und Vietnam abzeichnete, vor allem aber im Zeichen des Irak- und Afghanistankonflikts eine beklemmende Aktualität gewinnt.

Peter Scholl Latour hat diese Entwicklungen von Anfang an erlebt, vor allem das Scheitern der von Europa und Amerika inspirierten Vorstellungen von Säkularisierung und Demokratie. An die Stelle des ursprünglichen Versuchs zahlreicher islamischer Staaten, sich auf den Westen auszurichten, hat die islamische Religiosität in den unterschiedlichsten Formen um sich gegriffen. Die Losung lautet heute weithin: „ Der Islam ist die Lösung!“
Seltsamerweise hat diese Wiedergeburt des religiösen Fundamentalismus auch längst auf Amerika übergegriffen. Die religiöse Intoleranz macht sich dort nicht nur im klassischen „ Bible Belt“ bemerkbar, sondern ist auch in breiten Wählerschichten spürbar. Hier entsteht eine Differenzierung zu Europa, die sich psychologisch eventuell schwerwiegender auswirkt, als die militärischen Rückschläge der USA im gesamten Orient.

Zusätzlich untersuchen Gero von Boehm und Peter Scholl-Latour an Ort und Stelle, nämlich an der Grenze zu Mexiko, die profunde Transformation die sich in den Vereinigten Staaten als Folge einer massiven lateinamerikanischen Einwanderung feststellen lässt. Die Dokumentation geht der Frage nach, die bereits Samuel Huntington in seinem Buch „ Who are we?“ behandelt hat, ob nämlich die ursprüngliche ethnische und kulturelle Substanz der USA, die als „ weiß, angelsächsisch, protestantisch“ definiert wurde, nicht durch eine neue Gesellschaftsstruktur ersetzt wird. In Zukunft dürfte die Masseneinwanderung spanisch-indianischer Bevölkerungselemente, die überwiegend im Katholizismus verwurzelt sind, zu einer profunden Substanzveränderung führen. Diese demographische Problematik stellt sich nicht nur für die USA, sondern auch für andere, von „ Weißen“ bevölkerten Teile der Welt, wie Russland und Europa.

Im zweiten Abschnitt dieses ersten Filmteils wendet sich die Aufmerksamkeit der islamischen Welt zu. Die Türkei, die Peter Scholl-Latour im Jahre 1951 noch als einen kemalistisch ausgerichteten Staat erlebte, dessen oberstes Gebot, neben dem Nationalismus, die Forderung nach Laizismus war, unterliegt einer allmählichen und schier unaufhaltbaren Re-Islamisierung. Ähnliche Tendenzen haben in der arabischen Welt stattgefunden, wo der pan-arabische Nationalismus, der unter dem ägyptischen Staatschef Kemal Abdel Nasser seinen Höhepunkt erreichte, nun mehr der islamistischen Forderung Platz macht, das für fromme Muslime nur die Gemeinschaft der koranischen „ Umma“ zählt, und dass der utopische Idealzustand eines neuen Kalifats angestrebt wird. Als folgenschwerste Entwicklung, deren Bedeutung die rein kriegerischen Aktionen weit überragt , präsentiert sich heute der Konflikt zwischen den sunnitischen und schiitischen Glaubenszweigen des Islam, wobei Washington vor allem die Bildung eines schiitischen Machtblocks zu befürchten scheint, der sich vom Hindukusch bis zum Libanon erstrecken könnte.